Aktuelles Urteil im Arzthaftungsrecht: Beweislastumkehr bei Befunderhebungsfehlern
Zusammenfassung
Ein aktuelles Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 4. Juni 2024 VI ZR 108/23 beleuchtet die Beweislastumkehr bei Befunderhebungsfehlern im Arzthaftungsrecht. Im vorliegenden Fall führte das Unterlassen einer notwendigen augenärztlichen Untersuchung bei einem Frühgeborenen aufgrund eines fehlerhaften Entlassungsbriefs zu schwerwiegenden Sehbehinderungen. Das Urteil klärt, wann eine Beweislastumkehr greift und welche Anforderungen an die ärztliche Dokumentation und Information gestellt werden.
Der Sachverhalt
Ein in der 25. Schwangerschaftswoche geborenes Frühgeborenes wurde am 31. Oktober 2016 aus der Klinik entlassen. Aufgrund der noch nicht vollständig entwickelten Netzhaut bestand bei dem Kind ein erhöhtes Risiko für eine Frühgeborenen-Retinopathie. Die ärztlichen Kontrollen in der Klinik hatten bis zu diesem Zeitpunkt keine Auffälligkeiten ergeben.
Entsprechend dem vorläufigen Entlassungsbrief wurden die Eltern angewiesen, eine augenärztliche Kontrolle erst in drei Monaten durchführen zu lassen. Bereits am 24. November 2016, knapp einen Monat nach der Entlassung, wurde bei dem Kind in einer anderen Klinik eine Frühgeborenen-Retinopathie diagnostiziert. Das rechte Auge war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr behandelbar, und das Kind erlitt eine schwere Sehbehinderung.
Die Entscheidung des BGH
Der BGH entschied, dass der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in der unterlassenen Befunderhebung lag und nicht lediglich in einer fehlerhaften therapeutischen Information. Ein Befunderhebungsfehler liegt vor, wenn medizinisch gebotene Untersuchungen nicht durchgeführt oder nicht rechtzeitig veranlasst werden. Dies war im vorliegenden Fall gegeben, da die notwendige augenärztliche Untersuchung nicht rechtzeitig erfolgte.
Gemäß § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB wird vermutet, dass ein Behandlungsfehler ursächlich für die Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit ist, wenn der behandelnde Arzt es unterlassen hat, einen medizinisch gebotenen Befund rechtzeitig zu erheben oder zu sichern. Die Beklagte hat daher den Beweis zu erbringen, dass der Fehler nicht ursächlich für den Gesundheitsschaden des Kindes war.
Die rechtlichen Konsequenzen
Durch die Entscheidung des BGH wird klargestellt, dass bei Vorliegen eines Befunderhebungsfehlers die Beweislastumkehr greift. Dies bedeutet, dass die Behandlungsseite beweisen muss, dass ihr Fehler nicht kausal für den eingetretenen Gesundheitsschaden war. Im vorliegenden Fall konnte die Beklagte diesen Beweis nicht erbringen, sodass sie für den gesamten Schaden des Kindes haftet.
Die Bedeutung für die Praxis
Das Urteil verdeutlicht die immense Bedeutung einer korrekten und vollständigen ärztlichen Dokumentation und Information. Ärzte und Krankenhäuser sind verpflichtet, alle medizinisch notwendigen Untersuchungen rechtzeitig durchzuführen oder korrekt zu veranlassen. Fehler in der Kommunikation und Dokumentation können zu schwerwiegenden rechtlichen Konsequenzen führen.
Fazit
Dieses Urteil bringt Klarheit für ähnliche Fälle und betont die hohen Anforderungen an die Sorgfaltspflicht von Ärzten und Krankenhäusern. Es unterstreicht die Bedeutung der rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Befunderhebung sowie der ausführlichen und korrekten Information der Patienten oder ihrer Angehörigen.