c) nachträgliche Feststellung der Testierunfähigkeit nach dem Tode des Erblassers


OLG München, Urt. v. 9.6.2021:


„1. Nach § 2229 Abs. 4 BGB kann ein Testament nicht errichten, wer infolge einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Eine entsprechende Diagnose setzt regelmäßig eine ärztliche Exploration zu Lebzeiten voraus, weil nur durch psychiatrische Exploration zu klären ist, ob (wahnhafte) Gewissheit oder die Fähigkeit zur Relativierung besteht.

2. Stand ein ungewöhnlich reichhaltiges, authentisches Material für die Begutachtung zur Verfügung, das über das üblicherweise zur Verfügung stehende Material im Falle einer lebzeitigen Exploration hinausgeht, so ist eine Diagnosestellung ausnahmsweise auch post mortem möglich.

3. Dies ist der Fall, wenn der Erblasser eine außergewöhnliche Vielzahl von schriftlichen - nicht nur literarischen, sondern auch brieflichen - Erzeugnissen hinterlassen hat, die der Sachverständige sehr sorgfältig ausgewertet hat, und es überdies Interviews mit dem Erblasser gibt, die teilweise auf DVD aufgezeichnet vorliegen.“


d) Würdigung eines Sachverständigengutachtens


aa) Abweichung des Berufungsgerichts vom erstinstanzlichen Gericht


Will das Berufungsgericht die Ausführungen eines gerichtlich bestellten Sachverständigen anders würdigen als das erstinstanzliche Gericht, so hat es den Sachverständigen nach § 529 Abs. 1 Nr. 1, §§ 398, 402 ZPO erneut anzuhören, weil es sonst den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt.


bb) Abweichung von einem Sachverständigengutachten


Will das Gericht einem Gutachten nicht folgen, muss es sorgfältig prüfen, ob es seine Zweifel an den sachverständigen Äußerungen ohne weitere sachkundige Hilfe zur Grundlage seiner Entscheidung machen kann, etwa weil es bereits durch die ihm vom Sachverständigen vermittelte sachliche Information dazu befähigt worden ist. Fehlt es daran und verschließt sich das Gericht der Notwendigkeit, zur Klärung seiner Bedenken den Sachverständigen zur Ergänzung oder mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu veranlassen oder einen weiteren Sachverständigen zu beauftragen, so bewegt es sich bei seiner Überzeugungsbildung außerhalb des der tatrichterlichen Beweiswürdigung eingeräumten Bereichs.


e) Amtsaufklärung der Testierfähigkeit


Da die Störung der Geistestätigkeit die Ausnahme bildet, ist der Testator so lange als testierfähig anzusehen, wie nicht die Testierunfähigkeit zur Gewissheit des Gerichts nachgewiesen ist. Wird im Erbscheinsverfahren die Testierunfähigkeit des Erblassers eingewandt, so ist das Nachlassgericht wegen der Amtsermittlungspflicht gem. § 26 FamFG gehalten, naheliegenden Ermittlungsansätzen nachzugehen. Stand der Erblasser im Zeitpunkt der Testamentserrichtung unter gesetzlicher Betreuung, so kann für das Nachlassgericht Veranlassung bestehen, Einsicht in die Betreuungsakten zu nehmen, wenngleich auch für den Betreuten der Grundsatz der Testierfähigkeit gilt. Weitere Ermittlungen sind dann anzustellen, wenn sich aus dem Inhalt der beigezogenen Betreuungsakten konkret begründete Zweifel an der Testierfähigkeit ergeben.


f) Wahrnehmungen des Notars zur Testierfähigkeit


Ist die Verfügung von Todes wegen, deren Wirksamkeit angezweifelt wird, notariell beurkundet, so dürfte in aller Regel der beweispflichtigen Partei die Vorschrift des § 28 BeurkG zu Hilfe kommen. Danach hat der Notar Feststellungen zur Geschäfts- bzw. Testierfähigkeit zu treffen. Diese Feststellungen des Notars in der notariellen Urkunde können vom Prozessgericht im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 ZPO verwertet werden. Die Wahrnehmungen des beurkundenden Notars zur Geschäfts- bzw. Testierfähigkeit können allenfalls als Indiz gewertet werden, nicht aber als vollwertiger Beweis.


Das Kammergericht misst den Feststellungen des Notars zur Geschäfts- und Testierfähigkeit in der späteren Beweiswürdigung besonderes Gewicht bei.

Nach BayObLG, Beschl. v. 17.8.2004 - 1 ZBR 53/04, haben solche Feststellungen lediglich Indizwirkung:


Zitat

„Rechtsfehlerhaft ist ferner die Auffassung des Landgerichts, es könne schon deshalb von Testierfähigkeit ausgehen, weil die beurkundenden Notare jeweils in der Urkunde festgehalten haben, sie seien aufgrund der Verhandlung mit dem Erblasser von dessen Testierfähigkeit überzeugt. Zwar kann bei einem ordnungsgemäß errichteten öffentlichen Testament in dem nach § 28 BeurkG vorgesehenen Vermerk des Notars über, seine Wahrnehmungen bezüglich der Testierfähigkeit ein Indiz liegen (…). Eine solche Feststellung des Urkundsnotars ist jedoch nicht geeignet, schon gar nicht ohne eine Beweiserhebung über ihr Zustandekommen, aufgrund konkreter Umstände begründete Zweifel an der Testierfähigkeit zu entkräften, zumal wenn - wie hier - eine psychische Erkrankung des Erblassers bereits durch den Sachverständigen festgestellt ist. Auch wenn der Erblasser anlässlich der Beurkundung seiner letztwilligen Verfügungen keine Wahnvorstellungen geäußert haben sollte, rechtfertigt das nicht den Schluss, dass sie nicht vorhanden waren.“


g) Ärztliche Schweigepflicht


Führt eine solche Beweiswürdigung noch nicht zum Ergebnis, so ist ein Sachverständigengutachten zur Frage der Testierfähigkeit einzuholen. Im Rahmen der Beweisaufnahme wird sich i.d.R. die Frage stellen, inwieweit Aussagen des behandelnden Arztes (häufig des Hausarztes) herangezogen werden müssen.


Dabei kommt der Arzt als sachverständiger Zeuge gem. § 414 ZPO in Betracht. Es stellt sich die Frage, wie das dem Arzt nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zustehende Zeugnisverweigerungsrecht zu handhaben ist. Umstände, die die Testierfähigkeit betreffen, gehören zur ärztlichen Schweigepflicht und sind dem Arzt auch „anvertraut“ i.S.d. § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO. Das bedeutet, dass der Arzt von seiner Schweigepflicht zu entbinden ist, § 385 Abs. 2 ZPO. Da die ärztliche Schweigepflicht nicht mit dem Tod des Patienten endet, § 203 Abs. 5 StGB, hätte der Arzt vom Erblasser persönlich von der Schweigepflicht entbunden werden müssen, denn die Befreiungsbefugnis geht nicht auf die Erben über, weil die Testierfähigkeit eine höchstpersönliche Angelegenheit darstellt, die nicht der Rechtsfolge des § 1922 BGB unterliegt. Deshalb kommt es darauf an, ob der Erblasser zu Lebzeiten gegenüber dem Arzt oder gegenüber Dritten eine ausdrückliche oder konkludente Befreiung von der Schweigepflicht vorgenommen hat. Ist dies nicht der Fall, so kommt es auf den mutmaßlichen Willen des Erblassers (= Patienten) an, ob er eine Befreiung von der Verschwiegenheitspflicht gebilligt oder missbilligt haben würde. Die h.M. nimmt an, der Erblasser habe ein Interesse an der Feststellung der Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Verfügung von Todes wegen. Deshalb kann der Arzt als von der Schweigepflicht entbunden angesehen werden.


Das Sachverständigengutachten setzt grundsätzlich voraus, dass der zu begutachtende Sachverhalt - die sog. Anknüpfungs- oder Anschlusstatsachen - vom Gericht selbst ermittelt wird, § 404a Abs. 3 ZPO. Das Gericht hat die Anknüpfungstatsachen selbst festzustellen und dem Sachverständigen als Grundlage seiner gutachterlichen Äußerung vorzugeben.


Einsichtsrecht in Behandlungsakten des Arztes:

Nach § 630g Abs. 3 S. 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 BGB kann im Falle des Todes des Patienten der Erbe Einsicht in die Behandlungsakten des Arztes zur Wahrnehmung der vermögensrechtlichen und die nächsten Angehörigen hinsichtlich immaterieller Interessen nehmen. Nach § 630g Abs. 3 S. 3 BGB sind die Rechte allerdings ausgeschlossen, soweit der Einsichtnahme der ausdrückliche oder mutmaßliche Wille des Patienten entgegensteht.

Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass dem Arzt bei der Prüfung des Patientenwillens ein Ermessen zusteht, das nur begrenzt gerichtlich überprüfbar ist. Demnach ist der in Anspruch genommene Arzt gewissermaßen selbst die letzte Instanz. Allerdings muss der Arzt darlegen, dass und unter welchem allgemeinen Gesichtspunkt er sich durch die Schweigepflicht an der Offenlegung der Unterlagen gehindert sieht.

Angehörige haben im Grundsatz kein Recht, aufgrund einer Vorsorgevollmacht Einsicht in Behandlungsunterlagen eines Verstorbenen zu nehmen, gegen dessen ausdrücklich erklärten oder mutmaßlichen Willen. Schließlich führt eine Vollmacht nicht zu einer Verdoppelung der Entscheidungsträger. Vielmehr geht der eigene Wille eines Geschäftsfähigen bei widersprechenden Erklärungen vor.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des BGH zum digitalen Nachlass. Dort war die Frage zu entscheiden, ob die Rechte aus einem Nutzungsvertrag für ein soziales Netzwerk in den Nachlass fallen. Dies wurde bejaht und dabei ausdrücklich ausgeführt, dass die Pflichten nicht persönlichkeitsrelevant seien, da lediglich technische Leistungen geschuldet würden, die - anders als bei einem Behandlungsvertrag mit einem Arzt - unverändert gegenüber den Erben erbracht werden könnten. Im Übrigen hielt der BGH einen entgegenstehenden Willen des Erblassers durchaus für bedeutsam.


h) Notarielle Schweigepflicht


Der Notar unterliegt nach § 18 BNotO der Schweigepflicht. Wenn er zu Umständen der Beurkundung, u.a. über seine Wahrnehmungen betreffend die Geschäfts- und Testierfähigkeit, Aussagen machen soll - vor Gericht oder gegenüber einem Beteiligten außerhalb eines Rechtsstreits -, so muss er von der Schweigepflicht entbunden werden. Die Entbindung nehmen nach § 18 BNotO grundsätzlich die Beurkundungsbeteiligten selbst vor. Kann die Entbindungserklärung von einem Beteiligten nicht beigebracht werden, bspw. weil er verstorben ist, so wird der Notar anstelle des Verstorbenen vom Präsidenten des Landgerichts, in dessen Bezirk der Notar seinen Amtssitz hat, von der Schweigepflicht entbunden. Eine mutmaßliche Einwilligung eines verstorbenen Erblassers ist nicht entscheidend.



Zum Zeugnisverweigerungsrecht des Notars führt der BGH im Beschl. v. 9.12.2004 - IX ZB 279/03 aus:


Zitat

„a) Das Zeugnisverweigerungsrecht des Notars erstreckt sich auf den gesamten Inhalt der notariellen Verhandlung einschließlich der Umstände, die der Notar anläßlich der Verhandlung erfährt; sie müssen ihm nicht besonders anvertraut worden sein.

b) Von dem Zeugnisverweigerungsrecht werden grundsätzlich auch schriftliche Änderungsvorschläge erfaßt, die dem Notar zur Vorbereitung des Beurkundungstermins übersandt wurden; ob sie vor der Beurkundung anderen Urkundsbeteiligten oder ihren anwaltlichen Beratern zugänglich gemacht werden sollten, ist unerheblich.“


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