Unfälle zwischen einem überholenden Fahrzeug und einem linksabbiegenden Fahrzeug sind komplexe Szenarien, die eine detaillierte Analyse der jeweiligen Verschuldensanteile erfordern. Die rechtliche Beurteilung der Haftungsquote hängt dabei maßgeblich von den Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) und den genauen Umständen des Unfallgeschehens ab. Im Folgenden gebe ich Ihnen einen Überblick über die relevanten Vorschriften und die typische Rechtsprechung.


Relevante Vorschriften der StVO

§ 5 StVO - Überholen

  • § 5 Abs. 1 StVO: Das Überholen ist nur erlaubt, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
  • § 5 Abs. 4 StVO: Beim Überholen muss der Überholende eine wesentlich höhere Geschwindigkeit als der Überholte haben.
  • § 5 Abs. 7 StVO: Ist das Vorbeifahren an einem Fahrzeug auf der dafür vorgesehenen Spur nicht möglich oder erlaubt, ist das Überholen verboten.

§ 9 StVO - Abbiegen, Wenden und Rückwärtsfahren

  • § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO: Wer abbiegen will, muss dies rechtzeitig und deutlich ankündigen sowie darauf achten, dass während des Abbiegens keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet werden.
  • § 9 Abs. 5 StVO: Besonders vorsichtig muss sein, wer links abbiegt, sowohl beim Abbiegen selbst als auch beim Einordnen und Beschleunigen oder Bremsen[0:18].


Rechtsprechung und Haftungsverteilung

Die Gerichte müssen bei der Beurteilung der Haftungsquote eine umfassende Analyse der geltenden Verkehrsregeln und des Verhaltens der Unfallbeteiligten vornehmen. Dabei spielt die Beurteilung des Verschuldensanteils beider Parteien eine entscheidende Rolle.

Verschuldensanteil des Überholenden: 

Ein Überholmanöver, das mehrere Fahrzeuge gleichzeitig umfasst, birgt ein besonders hohes Gefahrenpotenzial. Der Überholende muss sicherstellen, dass das Überholen über die gesamte Fahrstrecke hinweg gefahrlos möglich ist und keine Fahrzeuge abbiegen. Führt der Überholer das Manöver trotz unklarer Verkehrslage oder uneinsehbarer Verkehrsverhältnisse (z. B. Kurve, Kuppe) durch, trägt er ein hohes Verschulden.

Verschuldensanteil des Linksabbiegers:

Der Linksabbieger ist verpflichtet, sich zu vergewissern, dass kein Verkehr von hinten kommt oder bereits am Überholen ist, bevor er den Abbiegevorgang einleitet. Dies erfordert eine gesteigerte Sorgfalt entsprechend § 9 Abs. 5 StVO. Unterlässt der Linksabbieger das ordnungsgemäße Ankündigen des Abbiegevorgangs oder den Schulterblick, muss er ein beachtliches Mitverschulden tragen.


Typische Haftungsverteilung

Aus Erfahrung kann ich berichten, dass die Gerichte dazu neigen, die Schadensverteilung ausgewogen zwischen den Parteien vorzunehmen. In vielen Fällen wird eine Quotenhaftung angewendet, die je nach Verschuldensgrad variiert.

Beispiele für gerichtliche Haftungsverteilungen sind:

  • 50:50-Haftungsverteilung: Wenn beide Verkehrsteilnehmer signifikant gegen die Verkehrsregeln verstoßen haben.
  • 70:30-Haftungsverteilung zugunsten des Überholenden: Wenn das Verschulden des Linksabbiegers (z. B. unterlassener Schulterblick) schwerer wiegt.
  • 70:30-Haftungsverteilung zugunsten des Linksabbiegers: Wenn das Überholen besonders riskant und unangebracht war.

Es ist immer zu berücksichtigen, dass die endgültige Haftungsquote von den exakten Unfallumständen abhängig ist und dass Zeugen- sowie Gutachteraussagen eine wesentliche Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen können. Meistens ist jedoch der Haftungsanteil des Linksabbiegers derjenige, welcher überwiegt. Die doppelte Rückschaupflicht des Linksabbiegers wird meist als der erheblichere Verstoß gewertet, was insbesondere dann gilt, wenn das Überholen erlaubt war. 

Fazit

Die Bewertung der Haftungsquote bei einem Unfall zwischen einem Überholer und einem Linksabbieger erfordert eine sorgfältige Prüfung der Pflichtverletzungen beider Parteien und eine genaue Anwendung der gesetzlichen Vorschriften. Die spezifische Haftungsverteilung kann nur nach individueller Betrachtung des Unfallgeschehens erfolgen, bei der sowohl die Verkehrssicherheit als auch die Verhaltensvorschriften der StVO maßgeblich sind.

Und denken Sie daran: Lieber im Zweifel einmal mehr den Schulterblick machen – Ihr Auto wird es Ihnen danken!